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ZeitLebensZeiten
Version 02.00.01
© ZeitLebensZeiten
2007 ff.
 

TORHORST  NACHKOMMEN

Der Großteil der Nachkommen von Arnold Torhorst und Luise Smend kann aus Persönlichkeitsschutzrechten nicht veröffentlicht werden.Immerhin aber ist es möglich, zu allen ihren Kindern einige Angaben machen, zumal einige von ihnen im öffentlichen Leben eine Rolle spielten und teilweise markante Positionen einnahmen.

16N


Durch die Schilderungen des Familienlebens in einer bisher nicht veröffentlichten Chronik von Arnold Torhorst-535 und die Erinnerungen von Marie Torhorst-688 wird das Leben in einer Pfarr-Familie sehr lebendig und anschaulich. An dieser Stelle seien die Erlebnisse in den Aufzeichnungen der Kinder wiedergegeben, die alle Kinder betrafen.

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So schreibt Arnold Torhorst:

Die kalte Kirche in Ledde

„Im Winter war`s kalt, eisig kalt in der natürlich ungeheizten Kirche. Die Frauen brachten dann vielfach ihr „Stöwken“ mit, einen Messingbehälter mit einem Blechkasten mit glühender Asche; darauf stellten sie ihre Füße, nachdem sie vor der Kirche, die Asche zum Glühen zu bringen, das „Stöwken“, es am Henkel haltend hin und her geschwenkt hatten. Für unseren Vater, der an seinem Platz, direkt an der Kanzeltreppe, einen Fußsack benutzte, brachten wir noch einen heißen Stein hin, den er, wenn er zur Kanzel ging, dem neben ihm [auf der] durch ein Brett abgetrennten Presbyterbank sitzenden alten Presbyter z. B. Rahmeier hinschob. Ich [Sohn Arnold] sehe noch den dankbaren Blick, den dieser unserem Vater dann zuwarf. Kamen wir wintertags, durchfroren nach der Kirche nach Haus, gab’s eine Tasse Bouillon, die wir zu einem Zwieback, - sie war glutheiß – tranken. Den „Brandschmerz“ auf der Zunge spürte ich noch lange, noch oft bis Mitwoch, dann war er fort. Wurde ich wach und spürte den Schmerz (durchaus erträglich) noch, so brauchte ich mich nicht zu besinnen, ich wußte, jetzt ist Montag bzw. Dienstag, je nach „Stärkegrad“.
 

Konfirmandenunterricht

Von ½1 bis 2 Uhr war strikte Ruhe. Weil Vater sich ausruhen musste, war die Kinderlehre von 2 bis 3 Uhr. Da kamen die 3 kirchlichen Unterrichtsjahrgänge. Mit 12 Jahren kam man in den Unterricht, mit 15 Jahren war Konfirmation. Es waren das immer so etwa 30 Kinder, und zwar fast ausnahmslos zur Hälfte Mädchen, zur Hälfte Jungens. Also diese saßen um 2 Uhr in der Kirche, die Jungens vom Altar aus gesehen links, die Mädchen rechts. Daß jemand fehlte, war völlig ausgeschlossen. Nur Krankheit entschuldigte. Eingangslied, dann Katechismusbesprechung. Die 129 Fragen des „Heidelberger [Katechismus]“ waren sorglich in 52 Abschnitte aufgeteilt, den 52 Sonntagen entsprechend, so kamen allsonntäglich 2 bis 3 Fragen dran. Die mußten wir können, auch die untersten Jahrgänge, „Eisern“ fragte mein Vater sie ab. Ging’s um 3 Uhr heim, kam mein Sohn Arnolds] Vater mit 1 oder 2 oder 3 „Delinquenten“, die nicht gelernt hatten, an; mehr konnte er auf den 3 Stühlen unterm Hoffenster der Küche nicht lassen, da saßen sie und lernten. Ich sehe, wenn wir mit Sonntagskaffee saßen, noch Vater oft aufstehen, die Gardine am Türglasfenster beiseite schieben, um festzustellen, ob die Jungens auch den Kopf im Buch hatten und nicht etwa mit den oder dem Dienstmädchen, die oder das am Küchentisch Kaffee tranken oder trank, schwätzten. Oft kamen die Jungens oder Mädchen, je nach dem, an die Tür und klopften: „Herr Pastor, ich kann’s jetzt“ oder „Ich hab`s jetzt inn’ Kopf!“ Und sie waren entlassen.
 

Hanna, Hermann und Arnold im Konfirmandendenuntericht

„Nie vergeß ich`s , wie einst Hermann und ich auf den Stühlen am Küchenfenster saßen. Die schwere, nam. für Kinder schwierige Frage Nr. 74 „Soll man auch die jungen Kinder taufen?“ war dran. Viele Kinder versagten. Nun hat der Pfarrer drei [eigene] Kinder in der Kinderlehre, dann hält er sich an diese. Und damals saß ich unten, Hermann in der Mitte, Hanna oben. Es muß im Sommer 1891 gewesen sein „Arnold, sag Du’s!“ Ich habe als Kind (noch bis zum 17. Lebensjahr ) arg gestottert. Ein Stotterer kann seine Faulheit gelegentlich stotternd verbergen. Aber Väter blicken durch. Also, ich begann: „J-Ja,de-de- denn die -die- w-weil s- s-sie sö-sö wohl-wi-wi-wie di-die A-a-alten in de-de-dem Bu-bu-bund Ge-ge- Gottes u-u-und....“ Stocken und Schweigen! „Bleib stehen, Hermann, sag Du`s.“ Der konnte die ersten Worte, da ich sie ihm mehrfach vorgesagt hatte, gut, blieb dann aber bei den Worten „und seiner Gemeinde gehörend“ hilflos stecken! „Bleib stehen. Hanna, sag Du’s!“ Die stand auf, ihre Geschwister beschämend (Wann hätte sie das in ihrer Bravheit und Tugend, die uns Jungens immer wieder vorgehalten wurde, vor den Eltern nicht getan) und begann fließend. „Ja, denn dieweil ......“ und endete ohne Stocken „..... wie im alten Testament durch die Beschneidung geschehen ist, an welcher Statt im Neuen Testament die Taufe ist eingesetzet.“ „Gut, setz Dich! Hermann und Arnold, Ihr kommt nachher mit!“ Und so gingen wir hinterm Vater her mit einem dritten Jungen, den er sich noch herausgesucht hatte, und mußten in der Küche Platz nehmen! Unvergeßlich bleibt mir, wie plötzlich durch die Glastür nicht Vaters, sondern Großmuttes Gesicht erschien, und ihre Brillenaugen schienen zu sagen:: „O, was habe ich für böse Enkel“. Und wir wußten, um den Groschen, den sie immer, wenn sie bei uns war, jeden Morgen für uns bereit hielt, ist es geschehen. Und so war es auch, und da sie erst Sonnabend abfuhr, waren es 6 Groschen, die wir nicht bekamen, und die fehlen mir heute noch.“
 

Strenge Erziehung durch die Eltern Arnold und Luise Torhorst

„Ja, wir wurden – keine Frage !- streng erzogen. Hatte Vater etwas angeordnet (z.B. Stille nachmittags, wenn er im Studierzimmer ruhte u.a.), dann war es uns schon unbehaglich, wenn wir, ohne das es gemerkt wurde, dagegen verstießen, freilich noch weit unbehaglicher (z. B. an den vom Herrgott dafür vorgesehenen Körperstellen!), wenn wir in flagranti dabei ertappt wurden. Er wachte über unserem Lernen, hörte uns gelegentlich ab. Stimmte etwas nicht zwischen uns und den Lehrern, er hielt’s eigentlich immer mit den Lehrern, was wir zunächst nicht immer verstanden, es aber schließlich doch in Ordnung fanden, finden mußten.. Mutter ging da mit dem Vater immer einig. Wenigstens haben wir Kinder es nie gemerkt, daß er mit dem, was sie, und sie mit dem, was er bestimmte, nicht einverstanden gewesen wären. Beide waren ja so verschieden, schon körperlich: Er kräftig und groß (Kragenweite 46!), sie zart und sehr anfällig, oft mußte sie zur Kur heraus, gelegentlich wochenlang, z.B. 1886, wo Tante Mathilde aus Barmen uns betreute; vornehm, wie’s sich für eine Barmerin ziemt, duldete sie nicht, daß wir uns unserem Appetit (und den hatten wir nicht schlecht) zu sehr hingaben. „Man muß immer dann aufhören, wenn man noch mindestens einen Teller essen kann.“ Und sagten wir auch: „Tante, ich kann noch zwei Teller essen.“ Es half nichts. Damals wollte ich immer so gerne nach Leeden. „Warum“ „Da kann man sich doch satt essen!“ Als Mutter damals - von Neuenahr oder Nauheim – zurückkam, holten Vater und ich sie von Lengerich ab. Als sie mich sah, rief sie: „Aber Arnöldchen, was siehst Du mager aus!“ (Das hatte mit ihrer Strenge die Tante Mathilde getan!).“
 

Gartenarbeit im Pfarrhaus

„Wie haben wir schon als Kinder uns oft um unsere liebe Mutter gesorgt. Sie war so anfällig, oft erkältet, wohl auf der Lunge nicht ganz fest . Ihren großen Haushalt hat sie, die zunächst, von Münster kommend, sich sehr schwer in die engen, öden ländlichen Verhältnisse einleben konnte, stets in allerbester Ordnung gehabt. Wohl hatten wir schon des Viehs wegen (Kuh, Schwein, Ziege, Hühner) eigentlich immer zwei Mägde (Lisette, Sofie Gausmann, Minna aus dem Kampkotten u.a.), aber Mutter war wenigstens morgens und an den Frühlings (Aussaat und Pflanzen) – und Herbsttagen (Ernte) auch nachmittags immer dabei und legte mit Hand an. Wir Kinder gingen schon früh ihr zur Hand, wurden gründlich angestellt, mußten Sonnabends den Garten harken, wenn der Löwenzahn hervorkam, ihn ausstechen (es half nichts, er kam jedes Jahr wieder), mußten mit Messer das Gras zwischen den Steinen auf dem Hofe entfernen (dieses „Kreischen“, wenn Messer und Stein sich rieben, tat richtig den Ohren weh), mußten in der Kanne, solange das Pumpenwasser nur zum Kochen brauchbar war, Trinkwasser bei Langes holen, ... u. a. mehr, durften Mutter helfen beim Kartoffeln legen u. Erbsen- und Bohnen-pflanzen, durften im Herbst die Äpfel pflücken (auf der Bleiche die Zwiebeläpfel), wobei wir alte Sammelschürzen (bestickt „wenn Du ihnen gibst, so sammele sie“) umgehängt bekamen.“
 

Heißmangeln

„Ja , was mußten, was durften wir nicht alles. Am 22. März und am 2. September (Kaisers Geburtstag und Sedan), wenn Vater aus dem Studierzimmer die schwarz-weiß-rote Fahne heraushing (noch habe ich ihr Flattern im Ohr), holten wir Kinder zur Befestigung der Stange die alten Eisenbolzen herbei, die früher die Schiebefenster in den Seitenrillen beim Hochschieben festhielten, nun auf dem „Boden“ lagen , da sie beim Ersatz der Schiebefenster durch Flügelfenster (wohl um 1884) überflüssig geworden waren. Wurde auf dem „Boden“ gemangelt mit dem großen und durch schwere Bruchsteine beschwerten Kasten (2 m zu 1 m), der die mit Wäsche umwickelten Rollen bei beiderseitigem Ziehen und Schieben hin und her führte, durften wir auf den Bruchsteinen sitzen und uns hin und her fahren lassen und jauchzten auf, wenn der Kasten zum Wechseln der Rollen schräg zu stehen kam. Wer könnte das vergessen? Wer kennt so etwas heute noch zur Zeit der Heißmangel? - Wie war doch unsere Jugendzeit reich an Erlebnissen, die die heutige Jugend einfach nicht mehr kennt, an diese gemütliche Stille und Ruhe, kein „Tempo, Tempo!“, mehr nach dem „Immer langsam voran“, keine „100 Stunden Kilometer“, wenn`s hoch kam mit Pferdegespann 12, mit dem Rad, das um 80 aufkam, (Hochrad zunächst) höchstens so 20 km die Stunde, keine Schreibmaschine, kein „Füller“, kein Telefon, keine Kameras, (nur bei Berufsphotographen!) Und es lebte sich damals auch, und man war zufrieden.

Unser Lieblingslied neben dem „An einem Fluß, der rauschend schoß“ war:

Freund, ich bin zufrieden,
geh es, wie es will,
unter meinem Dache

leb ich froh ind still!

Mancher Mensch hat alles,
was sein Herz begehrt;
doch ich kann entbehren,
das ist Goldes wert.

Und die rührende Schlußstrophe:

Keine Pyramide schmücket einst mein Grab
und auf meinem Sarge
prangt kein Marschallstab.
Friede aber wehet
um mein Leichentuch;
ein paar Freunde weinen,
und das ist genug!“
 

Sonntägliche Familientreffen an der Tanne

Und wie gemütlich ging alles zu. Ohne Schlafrock und Pfeife kann ich mir meinen Vater nicht vorstellen in seinem Studierzimmer, dem rauchdurchschwängerten, fast hätte ich gesagt, „Heiligtum“, dem wir uns nur ganz sachte, wie der Lenz „auf leisen Sohlen“ nahen durften. Kam doch gelegentlich Onkel Florens vom nahen Leeden in Schlafrock und langer Pfeife zur „Tanne“, die vom Bergrücken am Höhenweg zwischen Tecklenburg und der Margaretenegge (hoch über Stift Leeden) die kleinen Kiefern und Quakeln (Wacholder) weit überragend, in die Lande schaute. Dort trafen wir uns oft mit den Leedischen Sonntag Nachmittags, auf Plaids oder im Sande, plaudernd und singend, auch die 4 Rätsel, die stets die Sonntagsnummer der „täglichen Rundschau“ brachte, ratend. Ich höre noch Tante Paula, uns Singende alle übertönend, wenn die Sonne links von Tecklenburg unterging, singen: „Goldne Abendsonne“ oder solo „Still wie ein Schwan“. Und Vater suchte mit uns an den Kiefern „Fettmännchen“ (so nannten wir die kleinen Zweiglein, an denen sich nestförmig der Harz angesetzt hatte), und die brannten wir dann, wenn wir in der Dämmerung über den „Driehof“ heimwanderten. O, unvergeßliche Jugendzeit, mit Mörike zu reden „alte unnennbare Tage!“[Quelle der vorangehenden Abschnitte: Arnold Torhorst, Erinnerungen, unveröffentlichtes Manuskript im Familienbesitz, Übertragung: Siegfried Torhorst]
 

Luise Torhorst, geb. Smend schreibt in ihrer Gauhe-Smend-Chronik sehr viel über die Einbindung der Familie im Pfarrhaus von Ledde in Verbindung mit dem Leben ihrer Eltern, selten aber ausführlicher über ihr eigenes, engeres Familienleben mit Mann und Kindern. Immerhin eine Episode ist sehr ausführlich. Die Ereignisse scheinen ihr tief unter die Haut gegangen zu sein:

Der ... Winter von 1877 bis 1878 war grau und kalt. Mitte Januar fuhr [Luise Torhorst, geb. Smend] noch einmal für einige Tage nach Münster zum ausruhen und zu nötigen Besorgungen, aber [sie] hatte mit beständiger innerer Angst und Sorge zu tun, so dass [ihre Schwester] Mariechen [sie] mit aller Liebe...nicht beruhigen konnte. Am 22. [Januar] wollte [Arnold Torhorst seine Frau Luise] ... abholen. Er blieb aus und eine Depesche meldete seine Erkrankung. [Luise] reiste sofort ab, fand ihn fiebernd den Sessel. Der treue alte Dr. Krummacher kam noch am Abend. Es wurde schwere Lungenentzündung. Acht Tage pflegte [Luise] ihn Tag und Nacht allein, da sah ich die Gefahr, schrieb nach Münster, bat den treuen [Bruder] Julius aus Tecklenburg, die folgende Nacht bei [ihr] zu bleiben. Ganz spät, nachdem er gekommen, [hörte sie] vom Dorf her ein Posthorn, und gleich darauf trat der treue [Vater Friedrich Smend] ins Zimmer, der durch die grimmige Kälte mit Extrapost von Lengerich hergefahren kam. [Luise Smend…:]Wie dankte ich Gott! 

In der Nacht kam die Krisis mit Schweiß und Klarheit nach den Fantasien. [Vater Friedrich Smend] blieb über den Sonntag ..., predigte in Ledde, und kam noch an den folgenden zwei Sonntagen wieder, um sonntags für seinen lieben schwachen Schwiegersohn zu predigen. Dann schrieb er in [das] Fremden Buch der Familie Torhorst:

 „An guten Tag sei guter Dinge“ und „Den bösen Tag nimm auch für gut“. Die „bösen“ Tage haben insbesondere auch das gute, dass Sie uns in der Liebe untereinander nur näher bringen. Zum Gedächtnis der drei verschiedenen in Leidenszeit dort verbrachten Tage, die dennoch gute Tage gewesen. 30. Januar, 2. Februar, 9. Februar 1878 euer Vater“

Die Pflege und Sorge hatte [Luise] geschadet, schließlich musste auch ich mich legen, ehe [Arnold Torhorst] aufstehen durfte. Da kam die tatkräftige [Mutter Adelheid] von Münster her, nahm unsere und der Kinder Pflege resolut in die Hand, sorgte für kräftige Kost auch bei den Mädchen, damals Dina Blom (später Bogner?) Und Sofie Niemeyer, später Lenzing). [Arnold Torhorst] war etwas zaghaft und ängstlich, [Schwiegermutter Adelheid] macht ihm Mut zum Aufstehen, führte ihn durchs Zimmer, brachte ihm Schwarzbrot und nötigte ihn zum Essen. Es war erstaunlich, was sie in jener Zeit leistete und leisten konnte! Sie ging selbst zu Fuß nach Tecklenburg zum Arzt und Apotheker, sorgte, dass Ilse Beinecke sich bereit hielt, Ostern bei uns einzutreten, nahm bei der Abreise den [Enkel] Friedrich [damals gerade 4 Jahre alt] mit nach Münster, der aber so böses Heimweh bekam, dass [Luises Schwester] Mariechen ihn zurückbringen musste. [Quelle: Gauhe-Smend-Chronik]


Ein gänzlich anderer Erzählungsstil als der des Bruders Arnold und ihrer Mutter und andere Schwerpunkte prägen die Äußerungen von Marie Torhorst über ihr Elternhaus in den Erinnerungen, erschienen 1986 im Dietzverlag in Berlin beschrieben worden.

Marie Torhorst beschreibt darüber hinaus den Lebensweg ihrer Schwester Adelheid. Ihre eigene Geschichte wird anschaulich durch viele detaillierte Geschichten, die durchaus geeignet sind, ihre Gedanken und politischen Überzeugungen nachzuvollziehen. Ihre Erinnerungen waren wohl auch ein Stück Rechtfertigung für ihren Weg vom Pfarrhaus zum Kommunismus. 

In diesem Kapitel wurde Wert auf Ausschnitte gelegt, die den Schwerpunkt auf dem Familienleben in Ledde und die Geschichte ihrer Eltern haben und somit zu einem neuen eigenen Ganzen werden.Dennoch sind diese wenigen Zitate nur ein minimaler Teil der insgesamt sehr lesenswerten Erinnerungen der Pfarrerstochter, die Kommunistin wurde und in der DDR politische Verantwortung übernahm.. 
 

Schulleben in Ledde

„Wir alle gingen in die dreiklassige Schule unseres Heimatdorfes Ledde im Kreis Tecklenburg (Westfalen) und konnten später - da unsere Mutter ein kleines Vermögen geerbt hatte - eine höhere Schule besuchen und studieren, mit Ausnahme unserer ältesten Schwester Hanna (1875-1966). 

Ein Hütejunge brachte mir das Nachahmen von Vogelstimmen bei. Diese in meinen Kinderjahren erworbene Fähigkeit, mit der Vogelwelt zu »verkehren«, verschaffte mir im Laufe meines Lebens viele schöne Erinnerungen. Den Kuckucksruf zu erlernen bereitete besondere Schwierigkeiten.  Ein einfacher Kehllaut war nicht ähnlich genug. Es bedurfte langwieriger zungengymnastischer Übungen, um in die entsprechend geformte Zunge die Atemluft wie in eine Flöte hineinzublasen und zum Tönen zu bringen...

Wenn ich in irgendeinem Konzertsaal Beethovens 6. Sinfonie, die »Pastorale«, erlebte, wartete ich immer auf die Stelle, wo einige Vogelstimmen, auch der Kuckucksruf, zu hören sind. Es gelang mir dann in meiner Jugend manchmal, in gleicher Tonhöhe ganz leise hinter vorgehaltener Hand - mit meinem »Kuckuck« zu antworten.  Diese Sinfonie wie auch die anderen Sinfonien von Beethoven, die von Mozart, Haydn, Schubert, Schumann, auch von Brahms, waren mir bekannt. Bei uns im Pfarrhaus wurden diese Kompositionen, arrangiert für Klavier zu vier Händen, von uns Geschwistern in verschiedenster Besetzung oft gespielt...

In Ledde war meine beste Schulfreundin Rika Leismann, die Tochter eines Heuerlings. Ein Heuerling war ein landloser Bauer, der vom Großbauern ein Stück Land mit Wohnhaus und Stallung pachtete und sich dafür zur Lohnarbeit beim Großbauern verpflichten mußte. In meiner Erinnerung habe ich sie als ein stattliches und begabtes Mädchen vor Augen. Bei der Sitzverteilung, die von den Lehrern nach den Leistungen der Schüler vorgenommen wurde, wechselten wir uns immer auf Platz eins und zwei ab. ..

„(...)  Zu meinem Vater, der als Pfarrer zugleich Ortsschulinspektor war, kamen eines Tages die Eltern eines Schülers und beklagten sich, daß der Lehrer ihren Jungen brutal verprügelt habe. Als mein Vater das nicht glauben wollte, erzählten sie ihm, derselbe Lehrer ein ehemaliger Unteroffizier - habe auch mich, die Pfarrerstochter, so geprügelt, daß ich krank geworden sei. Mein Vater war überrascht und rief mich in sein Dienstzimmer. Ich mußte den Eltern recht geben und berichten, daß ich damals durch die Prügel so erschreckt und tief gekränkt worden sei, daß ich tatsächlich während einiger Tage die Schule nicht hatte besuchen können. Aus der unbestimmten Angst heraus, es würde zwischen meinem Vater und dem Lehrer Auseinandersetzungen geben, hatte ich den Eltern von diesem mich beschämenden Erlebnis nichts gesagt. Die Ursache war ganz belanglos: Aus unserem »Realienbuch« hatte ich die Beschreibung des Walfisches nicht genau genug nacherzählt.“
 

Die Geschwister

„Sie [Hanna] war für unsere Mutter eine unentbehrliche Hilfe in dem großen Haushalt, auch bei der Betreuung der kleinen Schwestern.  Adelheid war von klein auf kränklich und wurde schon als Schulkind zur Kur nach Bad Rothenfelde bei Osnabrück verschickt. Sie las sehr viel und hielt sich am liebsten im Hause auf, während ich draußen mit den Dorfkindern spielte, bei den Bauern die Kühe hütete und auch schon mit den Ackergäulen umzugehen verstand . 

Weil Adelheid von klein auf besonders gern las, wurde sie von den Brüdern geneckt und »Leseratte« genannt. Ich wünschte so sehr, es ihr gleichtun zu können, und freute mich daher auf die Schule, Als ich von meinem ersten Schultag begeistert nach Hause kam, griff ich begierig nach meinen Märchenbüchern und brach in Tränen aus, denn ich hatte gehofft, nun sogleich lesen zu können!..

Im Jahre 1898 verließ Adelheid das Elternhaus, um die Internatsschule in Stift Keppel bei Siegen und anschließend bis zum Jahre 1904 das dortige Lehrerinnenseminar zu besuchen. Da es in der Kreisstadt Tecklenburg und auch im- Umkreis eine für uns Kinder erreichbare höhere Schule, an der die Reifeprüfung hätte abgelegt werden können, nicht gab, mußten wir im Anschluß an die Dorfschule eine Internatsschule besuchen. Unser Bruder Friedrich (1874-1899) erhielt das Reifezeugnis in Osnabrück, Hermann (1876-1963) in Gütersloh, Arnold (1878-1959) und Julius (1880-1922) absolvierten Schulpforta. An verschiedenen Universitäten begannen sie dann mit ihrem Studium.“
 

Die Mutter Luise

„Meine Mutter bemühte sich um die Kranken im Dorf. Sie kochte kräftige Suppen, die die Kinder mittags nach der Schule in unserer Küche abholten und zu den Kranken brachten. Sie hatte für Notfälle allerlei Medikamente und Verband materialien im Haus, auch kräftigende Weine für Genesende. Sie wäre so gern Ärztin geworden, wie sie uns immer wieder erzählte. Ihrem Sohn Hermann, der Medizin studierte, fühlte sie sich deshalb besonders eng verbunden... 

Meine Mutter liebte die schöngeistige Literatur. Ich sehe noch ihr Bücherregal mit den langen Reihen der damals bekannten und beliebten englischen Romane vor mir, herausgegeben von der Tauchnitz-Edition. Charles Dickens war besonders häufig vertreten. In Erinnerung habe ich auch »Vanity Fair« (Jahrmarkt der Eitelkeit) von W. M. Thackeray. Schon früh unterwies mich meine Mutter in den Anfangsgründen der englischen Sprache und las mit mir in dem Büchlein »Sunbeam Stories« (Erzählungen· eines Sonnenstrahis).  Auch in der deutschen Literatur war sie zu Hause. Sogleich nach dem Erscheinen der »Buddenbrooks« im Jahre 1901 vertiefte sie sich in diesen Roman von Thomas Mann. Sie las nie, ohne dabei zu stricken oder zu häkeln. Bekümmert war sie, daß Adelheid und ich nicht imstande waren, es ihr gleichzutun“

 

Der Vater Arnold

Mein Vater besuchte die Kranken im Dorf als ihr Seelsorger. Oft begleitete ich ihn nachmittags auf seinen Wegen zu den weitverstreut liegenden Bauernhöfen und Heuerlingskaten. Im Sommer machte er mich unterwegs auf die vielen Vogelstimmen aufmerksam.  Im Winter zeigte er mir bei klarem Himmel auf den abendlichen Nachhausewegen die wichtigsten Sternbilder, die Planeten mit ihren wechselnden Stellungen und die verschiedenen Mondphasen. Auch liebte er es, mir unterwegs knifflige Rechenaufgaben zu stellen, die von Jahr zu Jahr komplizierter wurden...

Er freute sich sehr darüber, daß unser Bruder Julius Mathematik und Astronomie studierte. Besonders glücklich war er natürlich, als sich Bruder Arnold, dem ältesten Bruder Friedrich folgend, der Theologie widmete. Daß auch Adelheid und ich die Mathematik als Hauptstudienfach wählten, hat er nicht mehr erlebt. Die Mathematik lag offenbar unserer Familie sozusagen im Blut. 
 

Spätes Familienglück in Ledde

„Meine schöne Kindheit im Elternhaus ging zu Ende, als ich mit vierzehn Jahren im Jahre 1903 Ledde verlassen mußte und nach Beendigung der Osterferien mit Adelheid zusammen nach Stift Keppel fuhr, um meine Schulbildung fortzusetzen. ....

[Nach 21/2 Jahren]: Auch mein Vater freute sich sehr über meine Rückkehr. Er fuhr bald danach mit mir zusammen zu einem längeren Aufenthalt nach Norderney. Dort sah ich zum ersten Mal das Meer - ein unvergeßliches Erlebnis. Während der Vorbereitungen auf diese Reise kam es zu einem für unsere Eltern charakteristischen Erlebnis. Meine Mutter holte eine Bibel und wollte sie in den Koffer legen. Mein Vater wehrte aber lächelnd mit den Worten ab: »Das ist nicht nötig; wir werden baden und spazierengehen, die Wolken und das Meer beobachten; außerdem haben wir uns so viel zu erzählen!« ... .«“ [Quelle der vorstehenden Abschnitte: Marie Torhorst, Erinnerungen, Dietz-Verlag, 1986].