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ZeitLebensZeiten
Version 02.00.5
© ZeitLebensZeiten
2007 ff.
 

Wilhelm Nowack - Rektoratsrede 1892

1892/93 war der Theologe Wilhelm Nowack Rektor der Straßburger Universität, Senior der Theologischen Fakultät. Seine Antrittsrede widmete er  - man mag beinahe sagen „typisch“ – einem politisch-theologischen Thema. Ein Thema aus dem Alten Testament verbunden mit aktuellen politischen Aspekten vor dem Hintergrund der Industrialisierung und dem Boom der Gründerjahre.

Manches in dieser Rede führt in den Problemstellungen und Diskussionsaspekten direkt in die Jahre 2008-2009 mit ihrer Wirtschaftskrise und den Diskussionen über Folgen und notwendige Veränderungen in der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur.  Der Wertewandel ist ein nie endendes Thema...

Die Rede von Wilhelm Nowack, die in der Familie überliefert wurde, ist hier unwesentlich (um zu kleinteilige Dinge) gekürzt. Die Rechtschreibung von 1892 wurde weitgehend beibehalten, um den historischen Kontext auf diese Weise zu erhalten. Auf die Einfügung von Zwischenüberschriften wurde verzichtet - bei einer Rede gibt es sie nicht. Die Einteilung der Absätze wurde vom Bearbeiter vorgenommen, um die Lesbarkeit zu erleichtern.

Man nehme sich Zeit, lehne sich zurück und stelle sich den folgenden Text von dem abgebildeten Redner Wilhelm Nowack (für das Bild Dank an die BNU Strasbourg!) vorgetragen vor:

 

Hochansehnliche Versammlung!

Nicht ohne Bedenken folge ich der alten Sitte, dass der neueintretende Rector das Thema seiner Antrittsrede aus seinem besonderen Arbeitsgebiet wählt, denn weder können die alttestamentlichen Studien heute auf allgemeines Interesse rechnen, noch ist es leicht, in einer kurzen Spanne Zeit und ohne jede Bezugnahme auf die philologische Seite einen Einblick in die meist recht verwickelten Probleme zu geben, welche gegenwärtig die alttestamentlichen Forscher beschäftigen. 

Wenn ich es dennoch wage, für kurze Zeit Ihre Aufmerksamkeit auf „Die sozialen Probleme in Israel und deren Bedeutung für die religiöse Entwicklung dieses Volkes“ zu lenken, so geschieht das in der Überzeugung, dass einerseits ein derartiger Gegenstand heute der Teilnahme aller Gebildeten sicher ist, dass derselbe aber auch andrerseits einer wissenschaftlichen Behandlung um so mehr bedarf, als theologische wie nichttheologische Dilettanten im letzten Jahrzehnt sich diesem Gegenstande zugewandt und auf Grund einer unhistorischen Betrachtung alt- wie neutestamentlicher Schriften nicht geringe Verwirrung angerichtet haben. Freilich kann es sich hier nur um ein in großen Zügen zu entwerfendes Bild handeln, für das ich Ihre nachsichtige Aufmerksamkeit erbitte.

I.

Die alten Zeiten Israels boten wenig Anlass zu sozialen Konflikten. Zwar fehlen uns primäre Quellen über die Landverteilung an die einzelnen Geschlechter und Familien, aber es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dass jeder Stamm das von ihm eroberte Land unter die Zahl seiner waffenfähigen Männer verteilte, besaß doch Israel in jener alten Zeit weder einen eigentlichen Priester- noch Kriegeradel.  Je nach der Beschaffenheit des Landes setzten die Israeliten auch in der neuen Heimat die Viehzucht fort oder wandten sich dem Ackerbau zu, worin die Kanaaniter ihre Lehrmeister wurden. Letzteres war die bei weitem verbreitetste Beschäftigung, der Hoch wie Niedrig sich hingaben.

Der zum König bestimmte Saul kommt mit seinem Ochsengespann vom Felde her, als die Boten des belagerten Jabesch hilfesuchend in seiner Vaterstadt anlangten und auch nach seiner Thronbesteigung blieb Saul auf seinem Hof in Gibea; der berühmte Feldhauptmann des David, Joab, beschäftigte sich, wenn er nicht zu Felde lag, mit dem Ackerbau und der offenbar aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammende Elisa wird hinter den Rindern weg zum Nachfolger des Elias berufen.

Von nennenswertem Handel war in der alten Zeit keine Rede: von der Meeresküste abgeschnitten, hätten die Israeliten höchstens am Karawanenhandel sich betheiligen können, was aber während der Richterzeit schon um deswillen unmöglich war, weil die Karawanenstrassen durch die Städte der Kanaaniter gingen, mit denen sie fortdauernd um ihre Existenz zu kämpfen hatten; und auch noch während der ersten Jahrzehnte der Königsherrschaft, so lange das Reich noch nicht fest konsolidiert war, konnte von derartigen Unternehmungen keine Rede sein. So völlig auf sich selbst gestellt und allein auf den Ertrag ihrer Scholle angewiesen, bewahrten sie während des Jahrhunderte langen Kampfes um die nationale Selbständigkeit die Einfachheit der väterlichen Sitte und damit auch im Wesentlichen die soziale Einheit des Volkes.
 

II.

Das wird erst anders mit der Königszeit, als Israel, das bis dahin unterdrückte und nicht selten den Verzweiflungskampf um seine Existenz führende Volk zu einer nicht unbedeutenden Machtstellung in Vorder-Asien kam. Die Quellen über diese alte Königszeit, welche uns einen Einblick in die sozialen Zustände Israels gewähren, fließen freilich außerordentlich spärlich, immerhin reicht das sogenannte Bundesbuch aus, um die Anfänge des Bildes zu erkennen, welches die Propheten uns mit lebhafteren Farben und in kräftigeren Zügen zeichnen.

Es tritt uns in einzelnen Kreisen des Volkes ein Schwinden des Besitzes und der sozialen Selbständigkeit entgegen, es macht sich eine unnatürliche Härte des Gläubigers dem Schuldner gegenüber geltend, Übelstände, welche das Gesetzbuch zu beseitigen oder doch zu mildern sucht. Sehen wir von der Warnung vor der Rechtsunterdrückung bzw. vor der Parteinahme zu Gunsten der Mächtigen ab, so treten uns namentlich vier Forderungen, welche zu Gunsten der Armen geltend gemacht werden, entgegen:

  • Das Verbot des Wuchers dem Volksgenossen gegenüber, wobei allerdings fraglich ist, ob nach dem ursprünglichen Text des Bundesbuches Wucher und Zinsnahme identische Begriffe sind
     
  • Will der Gläubiger sich auch ein Pfand sichern, so darf er doch jedenfalls das Obergewand des Schuldners nicht während der Nacht behalten, sondern muss es vor Abend zurückgeben, weil es- vom Armen zugleich als Decke benutzt wurde, in die er sich zum Schutze gegen die Kälte der Nacht einzuhüllen suchte;
     
  • Jeder Israelit, welcher die Schuld nicht anders hatte abtragen können als dadurch, dass er sich dem Gläubiger, unter Umständen mit Weib und Kind, verkaufte, sollte im siebenten Jahr mit den Seinen ohne jedes Lösegeld frei ausgehen
     
  • Endlich fordert dies Gesetz ein Brachliegen der Äcker, Weinberge und Ölgärten im 7. Jahr zu Gunsten der Armen, welche essen sollten, was Feld und Weinberg von selbst in diesem Jahre geben. Man hat diese Forderung mit der des Sabbathjahres zusammengestellt, aber weder findet sich hier diese Bezeichnung, noch ist von einem Sabbath des Landes die Rede, eben sowenig handelt es sich hier um ein zu ein- und derselben Zeit im ganzen Lande zu beobachtendes, sondern um ein bei den einzelnen Grundstücken in verschiedene Zeiten fallendes Brachjahr.

Das Gesetz ist demnach analog dem oben erwähnten Sklavengesetz, bei welchem es sich zweifellos nicht um ein festes für das ganze Volk gültiges Freijahr, sondern um das für den einzelnen Israeliten nach sechsjährigem Dienst eintretende handelt. So angesehen, ist das Gesetz keineswegs praktisch undurchführbar, vielmehr ist es eine für die Fruchtbarkeit des Landes zweckmäßige Einrichtung, wie sie ja auch bei uns bis vor nicht langer Zeit im landwirtschaftlichen Betrieb üblich war, nur dass der Gesetzgeher nicht diese Seite heraushebt, sondern den humanen Gesichtspunkt : zu Gunsten der Armen wird das Nutznießungsrecht des Besitzers beschränkt.

Besonders erfolgreich sind diese Bestimmungen des Bundesbuches freilich nicht gewesen, einerseits scheiterte ihre Durchführung an dem Egoismus der Besitzenden, wie das in Bezug auf das Sklavenrecht aus Jeremia 34 wahrscheinlich wird, andrerseits waren sie doch nicht ausreichend, um die vorhandenen sozialen Schwierigkeiten zu heben; namentlich aus den Schriften der Propheten, welche ein offenes Auge für alle, auch die sozialen Schäden ihrer Zeit hatten, erkennen wir deutlich den immer weiter um sich greifenden Zersetzungsprozess.
 

III.

Die Zeiten hatten sich eben gewaltig geändert. War Israel früher ein um seine Existenz ringendes Volk, welches kein höheres Glück kannte, als in Frieden unter seinem Weinstock und Feigenbaum zu sitzen, so wird es jetzt häufig genug in politische Händel verwickelt, und seine Fürsten strebten bald darnach, in Großmachtsdünkel es andern orientalischen Herrschern gleichzutun und auch deren Regierungsgrundsätze sich anzueignen. Die Größe dieser Misswirtschaft mit ihren sozialen Folgen können wir nicht nur aus den Ereignissen nach dem Tode Salomos schließen, wir haben auch höchst instruktive Dokumente, welche den gewaltigen Umschwung der Stimmung in gewissen Kreisen, besonders des nördlichen Reiches, dem Königtum gegenüber beweisen.

Einst aus der Not der Zeit heraus geboren und als letzter Rettungsanker in den Tagen politischer Ohnmacht und Zerklüftung mit Freuden begrüßt, ja selbst von einem Manne wie Samuel willkommen geheißen, wurde das Königtum jetzt als gegen Jahves Willen verstoßend und aus leichtfertiger Auflehnung gegen ihn hervorgegangen dargestellt und was eine spätere Zeit an Vergewaltigung und Misswirtschaft seitens der Fürsten erfahren, das wird dem Samuel als weissagende Warnung in den Mund gelegt: „Eure Söhne wird er nehmen, um sie bei seinen Wagen und Rossen zu verwenden und damit sie sein Ackerland pflügen und seine Ernte einbringen ; eure Töchter wird er holen, damit sie ihm Salben bereiten, kochen und backen ; von euern Feldern» Weinbergen und Ölpflanzungen...wird er die besten nehmen und sie seinen Beamten geben u.s.f.“

Es mag sein, dass der Schriftsteller hier absichtlich grau in grau malt; dass die Farben zu diesem Bilde aber nicht lediglich der Phantasie entnommen sind, zeigen Züge wie die Vergewaltigung des Naboth durch Ahab und vor allem die Reden der Propheten, welche in unbestechlichem Wahrheitssinn und voll unbeugsamen Wahrheitsmutes ihrer Zeit ein Spiegelbild ihres Thuns und Treibens vor Augen stellen. Ein Amos ruft die heidnischen Grossen zu Zeugen des Frevels der Palastbewohner in Samarien auf, die das Recht nicht zu tun verstehen und Schätze des Frevels und der Gewalttat in ihren Palästen aufhäufen, die auf den Armen herumtreten und die Stillen im Lande zu vernichten trachten, und noch tiefer sind die Schatten in dem Bilde, das Hosea uns von den Grossen des Reiches zeichnet.

Aber auch im Süden gab es Zeiten, in denen es nicht viel besser aussah. Jesajah ruft sein Wehe über Judas Führer, die zu Verführern und Diebesgenossen geworden sind, die frevelnd Urteil sprechen und ungerechte Beschlüsse fassen, um die Armen vom Gericht zu verdrängen und den Leidenden im Volke das Recht zu rauben, die das Gute böse und das Böse gut nennen, die den Gerechten ihr Recht entziehen, den Gottlosen aber gegen Lohn lossprechen, und in dem Bilde der Vollendungszeit eines ungenannten Propheten findet sich, offenbar als Gegensatz zu seiner Gegenwart, der charakteristische Zug: „dann wird man den Gottlosen nicht mehr einen Edelmann und den Ränkeschmied nicht mehr einen Vornehmen nennen“ und in ganz ähnlicher Art, offenbar unter dem Einfluss derselben Verhältnisse, schreibt ein andrer Prophet: „wer in Gerechtigkeit wandelt und redet, was recht ist, wer ungerechten Gewinn verschmäht, wessen Hand sich wehret, Bestechung zu nehmen, wer sein Ohr verstopft, nicht den Blutrat zu hören, wer seine Äugen verschließt, nicht das Unrecht zu schauen, der wohnet auf Höhen, Felsenburgen sind sein Schutz.“
 

1890 Nowack 2 ZLZ %


IV.

Nicht weniger als diese orientalische Palastwirtschaft, die auch in Israel allmählich üblich wurde, trugen freilich auch die veränderten Lebensbedingungen des Volkes zu dieser sozialen Umwälzung bei. In alter Zeit war Israel, wie gesagt, ausschließlich auf Ackerbau und Viehzucht angewiesen, der Handel aber lag völlig in den Händen der Kanaaniter, so dass der Name „Kanaaniter“ geradezu zur Bezeichnung des Händlers wurde, daher waren auch die Kanaaniter in ihren Städten in Bezug auf Üppigkeit des Lebensgenusses und Reichtum den Israeliten überlegen, die sich mit dem begnügen mussten, was die eigene Scholle ihnen trug.

Das änderte sich in demselben Masse, als die in den Städten sitzenden Kanaaniter von den Israeliten allmählich absorbiert wurden und als die Israeliten in Konkurrenz mit den an der Küste sitzenden Kanaanitern sich am gewinnreichen Handel beteiligten. Schon Salomo hatte damit begonnen, indem er in Gemeinschaft mit Hiram von Tyrus seine Schiffe nach Ophir sandte. Josaphat hatte später diese Versuche erneuert und selbst, als durch den Verlust der Hafenstadt Elath Israel vom Meere abgeschnitten war, hörte es doch nicht auf am Handel sich zu betheiligen.

Die Propheten erkannten bald die bedenklichen Folgen und beklagten sie; „Israel, Jahve’s Volk, ist zum Kenaan, zum Krämervolk, geworden, das da spricht: bin ich doch reich geworden, habe Wohlstand erlangt, alle meine Erwerbungen werden mir zu keiner Verschuldung gereichen, die Verbrechen wären“, so ruft Hosea aus; ein Jesajah führt unter den Gründen, dass Jahve sein Volk Verstößen, neben’ den verschiedenen Formen des Götzendienstes auch den an, dass Judas Land voll ist von Silber und Gold und kein Ende seiner Schätze, d. h. mit andern Worten, dass das Geld allmählich zu einer Bedeutung gekommen ist, von der man bis dahin keine Ahnung hatte.

Aus Stellen wie Am. 5, ll. 8, 4 erkennen wir, dass nicht nur der landeinwärts gehende Karawanenhandel es war, an dem Israel sich beteiligte, sondern dass sich auch ein Handel mit den eigenen Landesprodukten bildete und sich namentlich Kornwucher entwickelte. Die kleinen Leute wurden abhängig von den Großhändlern, die oft in unbarmherziger Strenge die Schuldgesetze in Anwendung brachten, die Zahl der Besitzlosen, ja der Schuldsklaven mehrte sich, jetzt treten die grossen Latifundienbesitzer hervor, über die Jesajah sein Wehe ruft: „wehe über die, die Haus an Haus reihen, Feld zu Feld schlagen, bis kein Raum mehr da ist, so dass ihr allein wohnen bleibt inmitten der Leute“ und ganz ähnlich äußert sich sein Zeitgenosse Micha.


V.

Hand in Hand mit dieser Verschiebung des Besitzes zu Gunsten Einzelner, mit dieser immer mehr zur Geltung kommenden Macht des Geldes, mit dem steigenden Einfluss der Städte ging auch die Steigerung der Lebensgenüsse, ein Umsichgreifen von Üppigkeit in den Kreisen der oberen Zehntausend, deren Gefahr für die Gesundheit des Volkes von den Propheten schnell erkannt und die als Bruch der Vergangenheit aufs Energischste bekämpft wurde. Man baute sich jetzt Paläste aus Quadersteinen, die innen mit Elfenbein getäfelt waren;’ kunstvoll gearbeitete, mit kostbaren Damastdecken versehene Ruhebetten hatten die alten einfachen Diwane verdrängt; der Braten, der in alter Zeit nur an den Festen und bei besonderen Gelegenheiten auf den Tisch kam, wurde etwas Alltägliches; Männer tranken mit den Weibern um die Wette den Wein aus Humpen: man salbte sich mit dem feinsten Öl; an die Stelle der einst außerordentlich einfachen Tracht, auch der Frauen, tritt jetzt ein verschwenderischer Luxus, so dass wir selbst mit Hülfe der Phantasie unseres weiblichen Geschlechtes nur mit Mühe in jene Toilettengeheimnisse einzudringen vermögen, welche Jesaja 3, 16 ff. uns zeichnet.

Vergegenwärtigen wir uns diese Zustände, so wird uns der ganze Ingrimm begreiflich, mit welchem der Hirt von Thekoa in seiner freilich derben Form sich gegen die Basankühe auf dem Berge Samarien wendet, „welche die Armen bedrücken und die Elenden zermalmen und zu ihren Männern sprechen: bringet, dass wir trinken.“

Aber freilich was konnte auf die Dauer auch die glänzendste Beredsamkeit dieser Propheten fruchten, was die erschütterndsten Bußpredigten dieser Männer nützen? Gewiss wurde der Eine oder Andere von ihren Zeitgenossen aufgerüttelt, unter den schweren Geschicken der Gegenwart wohl auch eine ganze Generation durch den Hinweis auf den Zorn Jahves, des Heiligen, zur Selbstbesinnung gebracht, aber dauernde, praktische Folgen wurden nicht erreicht, diese Propheten schwebten eben als Idealisten zu sehr über der Wirklichkeit und verstanden es nicht, auf dem Wege praktischer Maßnahmen ihren Ideen zur Realität zu verhelfen, wie das namentlich in Bezug auf die von allen Propheten beklagte Rechtsunterdrückung sich zeigt : jeder von ihnen legt die Übelstände dar, aber keiner erkennt die tiefste Wurzel derselben und versucht es der Rechtspflege eine selbstständige, von der Willkür der Einzelnen unabhängige Organisation zu schaffen.

Aus derartigen Erwägungen ging wohl der in den prophetischen Kreisen in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts sich vollziehende Umschwung hervor: Man versuchte es, auf dem Wege einer vom prophetischen Geiste durchdrungene  Gesetzgebung den Übelständen beizukommen, ein nach gewisser Seite verhängnisvolles Unternehmen, insofern damit der erste Schritt auf jener Bahn geschieht, die zu der gesetzlichen Erstarrung im nachexilischen Judentum führte; konnten doch jene prophetischen Gesetzgeber gerade von den innerlichsten und für das religiös-sittliche Leben einschneidendsten Gedanken der Propheten in einer solchen Gesetzgebung keinen Gebrauch machen.
 

VI.

Wer nur oberflächlich das Deuteronomium, um das es sich hier handelt, durchblättert, erkennt sofort auf den ersten Blick, dass dies Gesetz in einer Zeit scharfer sozialer Gegensätze geboren ist, auf Schritt und Tritt begegnet uns die Rücksicht auf die Besitzlosen, Leviten, Witwen, Waisen und Fremdlinge, denen gegenüber Israel die Barmherzigkeit zur Pflicht gemacht wird, ist doch auch Israel in Ägypten ein Fremdling gewesen und kennt aus eigener Erfahrung das Loos der Gedrückten. ‚ Unverkennbar lehnt sich der Deuteronomiker an das Bundesbuch an, bildet aber die Bestimmungen desselben weiter fort, weil sie sich im Laufe der Jahre als ungenügend herausgestellt hatten. Das gilt in erster Linie von dem Gesetz über die Freilassung der Schuldsklaven: was nützte dem Einzelnen seine Freiheit, wenn er völlig mittellos, wie er ging und stand, aus dem Hause seines Gläubigers entlassen wurde, es dauerte nicht lange, so war er wiederum in der alten Abhängigkeit und der Ausbeutung schutzlos preisgegeben. Aus diesem Grunde verordnet das Deuteronomium. dass kein Gläubiger seinen Sklaven mit leeren Händen entlassen soll, vielmehr soll er von seinen Schafen, seiner Tenne und seiner Kelter ihm eine gehörige Last mitgeben. Übrigens lässt die hinzugefügte Mahnung: „Lass es dich nicht verdrießen, wenn du ihn frei ausgehen lassen musst“, erkennen, dass eine derartige Forderung der Freilassung der Sklaven im 7. Jahr früher in nicht seltenen Fällen auf Widerspruch gestoßen ist, wie das auch später nicht anders war.

Nach anderer Seite sucht das Deuteronomium dem Armen zu Hülfe zu kommen, indem es zunächst, vielleicht zum ersten Mal, Wucher und Zins identifiziert : den Volksgenossen gegenüber ist jedes Zinsnehmen Wucher und nicht gestattet, ein Gebot, welches dem Ausländer, gegen den nicht dieselben Pflichten der Barmherzigkeit zu üben sind, nicht zu statten kommt. Ferner beschränkt der Gesetzgeber den Gläubiger in Bezug auf sein Pfandrecht: zu dem alten Verbot, betreffs des Obergewandes ‚ kommt hier das neue hinzu, überhaupt die zum Leben notwendigsten Dinge, wie z. B. die Handmühle u. s. w. abzupfänden, ja das Deuteronomium untersagt sogar dem Gläubiger, in das Haus des Schuldners zu gehen und sich nach Belieben ein Pfand zu wählen, vielmehr soll derselbe vor dem Hause warten und das Pfand nehmen, das ihm der Schuldner herausbringt.

Zu Gunsten des Tagelöhners fordert der Gesetzgeber, dass an jedem Tage ihm sein Lohn ausgezahlt werde, ehe die Sonne untergeht, „sonst ruft er Jahve wider dich an, und du bist einer Verfehlung schuldig“. „ Die Mahnungen zur Barmherzigkeit gegen den Armen sind hier außerordentlich zahlreich, speziell werden freilich die Leviten berücksichtigt, über die damals eine soziale Katastrophe schwerster Art hereingebrochen war, denn während es bisher auf Grund des Gesetzes Ex. 20, 24 flf. eine große Zahl über das ganze Land hin verbreiteter legitimer Heiligtümer gab, unter denen freilich einige besonders hervorragten, zentralisirt das Deuteronomium den Cultus in Jerusalem, das allein ist die Stätte, die Jahve sich erwählt hat, um seinen Namen daselbst wohnen zu lassen, und damit macht es zahlreiche Priester dieser Höhen subsistenzlos. Darum hier die zahlreichen Mahnungen, bei den Opfermahlzeiten den Leviten nicht zu vergessen, der hier auf einer Linie neben den Fremdlingen, Witwen und Waisen erscheint.

Doch lässt es der Gesetzgeber nicht bei der allgemeinen Mahnung zur Barmherzigkeit gegen die Hilflosen, sondern es treten ganz bestimmte Forderungen hervor: im Weinberge seines Nächsten kann der Einzelne Trauben essen, so viel er mag, nur in sein Gefäß darf er nichts tun; ebenso ist es gestattet, auf dem Felde des Nächsten mit der Hand sich Ähren abzureißen, aber die Sichel darf er nicht über die Halme schwingen ;  wer auf dem Felde eine Garbe vergessen hat, darf nicht umkehren, sie zu holen; eben sowenig soll man bei der Oliven und Weinernte Nachlese halten, vielmehr Garben wie Nachlese gehören den Armen ; endlich soll jeder Israelit in jedem dritten Jahr den gesamten Zehnten von seinem Ertrage an seinem Wohnort niederlegen, damit Leviten, Witwen und Waisen sich satt essen.
 

VII.

Die einschneidendste Bestimmung unter allen sozialen Verordnungen des Deuteronomiums ist jedoch die über das 7. Jahr, das sogenannte Erlassjahr, wonach jedes Darlehen im 7. Jahr verfallen ist. „Der Gläubiger soll“, so heißt es, „seinen Nächsten und Volksgenossen nicht drängen, denn man hat einen Erlass zu Ehren Jahves ausgerufen. Den Ausländer magst du drängen, das aber, was du von deinem Volksgenossen zu fordern hast, sollst du erlassen“. Es ist klar, dass der Gesetzgeber damit dem Übel an die Wurzel greift, dass er aber so den Teufel gleichsam durch Beelzebub ausgetrieben, insofern ein derartiges Gesetz in kurzer Zeit den Stillstand alles geschäftlichen Lebens herbeiführen und dem Borgen überhaupt ein schnelles Ende bereiten musste. Man hat daher die Verordnung lediglich vom Zinserlass im siebenten Jahre verstehen wollen, im vollen Widerspruch mit dieser ganzen Gesetzgebung, die jedes Zinsnehmen verwirft; oder man hat den Nachdruck auf die Worte gelegt : „im 7. Jahr soll der Gläubiger seinen Volksgenossen nicht drängen“, erst nach Ablauf des 7. Jahres könne derselbe wieder an die Beitreibung der Schuld denken, aber weder verträgt sich das mit den Worten: „was du von deinem Volksgenossen zu fordern hast, sollst du erlassen“, noch lassen sich in diesem Fall die an dies Gesetz angeknüpften Warnungen begreifen.

Der Gesetzgeber selbst hat nämlich eine Ahnung von der bedenklichen Wirkung, die seine Forderung haben könnte, daher die Mahnung, nicht hartherzig zu sein und seine Hand gegen den Volksgenossen nicht zu verschließen, vielmehr ihm gerne zu leihen, so viel er in seinem Mangel bedarf. „Hüte dich“, fährt er fort, „das nicht in deinem Herzen ein nichtswürdiger Gedanke aufsteige, nämlich: das siebente Jahr, das Jahr des Erlasses, ist nahe, Und dass du nicht einen missgünstigen Blick auf deinen armen Volksgenossen werfest und ihm nichts gebest; wenn er dann deinetwegen zu Jahve schreit, so wird eine Verschuldung auf dir lasten, vielmehr geben sollst du ihm und sollst, wenn du ihm gibst, nicht verdrießlichen Sinnessein“.
 

VIII.

Bedeutete jenes Erlassjahr wirklich nichts anderes, als die Stundung der Schuld über dieses Jahr hinaus, so wäre eine derartige Sorge des Gesetzgebers und eine so eingehende Mahnung schwer begreiflich. Daher haben die Juden auch mit Recht dies Gesetz vom wirklichen Schuldenerlass verstanden, wenngleich sie später durch die Annahme des sogenannten Prosbuls es faktisch aufhoben und damit die Gefahren beseitigten, welche sich daraus für den Credit ergaben. Es wurde nämlich dem Gläubiger gestattet, vor Gericht die Erklärung abzugeben, dass er seine Schuld zu jeder Zeit einkassieren dürfe, damit war die Anullierung der Schuld durch das Schuldjahr aufgehoben, eine Erfindung, welche durch die Not der Zeit unter Herodes I, hervorgerufen und mit dem Namen des berühmten Hillel in Verbindung gebracht wird.

Wie der Gesetzgeber in Bezug auf das Erlassjahr der Durchführung seiner Forderungen hindernd in den Weg trat, weil er die realen Verhältnisse zu wenig berücksichtigte und darum zu viel wollte, so lässt sich überhaupt auf Grund von Jer. 34, 8 ff. schliessen, dass diese deuteronomischen Reformen zur wirklichen Durchführung meist nicht gekommen sind. Während nämlich in den Tagen des Zedekia das babylonische Heer vor Jerusalem lagerte und die Gefahr einer Eroberung täglich näher rückte, kam es, anscheinend unter der direkten Mitwirkung des Zedekia, im Tempel zu dem feierlichen Versprechen, das schon von ihren Vätern nicht beobachtete Gesetz der Freilassung der Sklaven im 7. Jahr zur Durchführung zu bringen. Man setzte sie in der That zu gleicher Zeit auf freien Fuß, aber kaum hatten die Babylonier die Belagerung Jerusalems aufgehoben, um den anrückenden Ägyptern entgegenzuziehen, so fand man Vorwände genug, die Freigelassenen wieder in das alte Abhängigkeitsverhältnis zurückzuzwingen, eine Bundbrüchigkeit, welche dem Jeremjah beweist, dass sie reif zum Gerichte sind.

Aehnlich ging es überhaupt mit diesen deuteronomischen Reformen: ein kräftiger Anlauf in den Tagen des Josias, der jedoch nach dem frühen Tode dieses Königs zu keinem bleibenden Resultate führte. Aber auf der vom Deuteronomiker betretenen Bahn schreitet Ezechiel weiter fort: auf dem Wege gesetzlicher Bestimmungen sucht er die von ihm angestrebte Reform zu sichern.


IX.

In seinem Bilde des Gottesstaates der Zukunft weist er nicht nur jedem der Stämme Israels ein festes, dauernd in seinem Besitz bleibendes Gebiet zu, das er unter die Stammesangehörigen und die Fremdlinge zu gleichen Theilen verlosen soll, Ezechiel bestimmt auch für den Fürsten Israels einen Landanteil, damit er aus dessen Ertrag die ihm obliegenden Opfer u. s. w. bestreite und nicht mehr Israel bedrücke, wie das ehedem der Fall war.

Auch dies Besitztum kann nur in der Familie des Fürsten vererbt werden, denn das Land, welches der Fürst einem seiner Knechte gibt, kann nur bis zum Jahre der Freilassung  ... sein eigen sein, danach muss es an den Fürsten zurückfallen.  Die große priesterliche Gesetzgebung, die erst seit den Tagen des Esra und Nehemia kanonisch wurde und der größten Wahrscheinlichkeit nach im Exil in der nachezechielischen Zeit abgefasst wurde, bildet in den schon vorgefundenen und benutzten Heiligkeitsgesetzen die Bestimmung des Deuteronomium fort, insofern hier nicht nur die Nachlese verboten, sondern auch gefordert wird, dass der Einzelne sein Feld nicht bis an den Rand abernte ... In dieser Kapitelreihe Lev. 17 — 26 findet sich auch zum ersten Mal ein Gesetz über das Sabbathjahr, ganz entsprechend dieser Zeit, in welcher der Sabbath zu einer bis dahin nicht gekannten Bedeutung kam.

Mit dem Falle Jerusalems und seines Tempels war ja die Möglichkeit der Opfer aufgehoben, kein Wunder daher, dass gerade jetzt der Sabbath und andere vom Cultus unabhängige Sitten aus ihrer bisher mehr peripherischen in eine zentrale Stellung rückten. Unverkennbar hat der Gesetzgeber bei seiner Verordnung über das Sabbathjahr jenes Gesetz des Bundesbuches über das 7. Jahr als Brachjahr in den Augen, gestaltet es aber in einer eigentümlichen dem Zeitgeiste entsprechenden Weise um. Während nämlich der Zweck jenes Gesetzes wesentlich der ist, den Besitzlosen zu Hülfe zu kommen, handelt es sich hier darum, dass. wie Mensch und Vieh, so auch das Land seinen Sabbath habe, zu Ehren Jahves soll das Land seine Ruhezeit haben.

Das Gesetz ist eben im Wesentlichen nichts als die Konsequenz der damals zur Geltung gekommenen Sabbath-Idee: einst ein Tag des Stillstands der Wochentagsarbeit, damit das Vieh ruhe und Sklaven und Fremdling einmal aufatmen, wurde es jetzt der Tag der absoluten Ruhe zu Ehren Jahves, dessen durch irgend welche Arbeit geschehene Entweihung Todesstrafe nach sich zog. Dort ist, wie gesagt, das siebente Jahr ein relatives, der Verzicht auf die Ernte verteilt sich für die Kinzehien auf verschiedene Jahre, hier ist entsprechend dem Sabbath auch das 7. Jahr ein festes, und der Verzicht auf die Ernte seitens der besitzenden Klasse drängte sich auf ein einziges Jahr für das gesamte Land zusammen.

Dass ein derartiges Gesetz praktisch die bedenklichsten Folgen haben musste, ist klar: an ihnen scheiterte wahrscheinlich die regelrechte Durchführung in der nachexilischen Zeit, denn nur aus der Makkabäerzeit und der Zeit des Caesar haben wir zuverlässige Nachrichten über sie. Für die vorexilische Zeit fehlen uns in prophetischen und historischen Büchern nicht nur alle Zeugnisse über ein Sabbathjahr — Lev. 26, 34 f. und 2 Chr. 16, 21, welche darauf hinweisen, dass das Land während der Verödung im Exil seine Ruhezeiten abgetragen, die man ihm in der vorexilischen Zeit vorenthalten hat, geben auch unumwunden zu, dass das Gesetz bis zum Exil nicht gehalten ist, eine an sich treue historische Erinnerung, aus der man nur nicht den richtigen historischen Schluss gezogen hat, dass es sich nämlich überhaupt um eine junge vor dem Exil unbekannte Einrichtung handelt.

Das andere dem Priestercodex eigentümliche Gesetz, welches von der größten sozialen Bedeutung hätte sein müssen, wenn es durchgeführt wäre, ist das über das Jubeljahr, welches nach der Analogie des Pfingstfestes künstlich gebildet ist,  denn wie der 50. Tag nach den 7 Erntesabbathen als Schlussfeier hervortritt, so das 50. Jahr nach den 7 Sabbathjahren, in welchem wie im vorhergehenden 7. Sabbathjahr das Land nicht bebaut werden sollte... Auch die Familie konnte auf die Dauer ihres Familiengutes nicht verlustig gehen: geriet jemand durch Unglück oder selbstverschuldete Noth in Schulden, so konnte sein Besitzthum nur bis zum nächsten Jubeljahr in die Hände des Gläubigers übergehen, dann aber musste es, falls es nicht vorher durch den Schuldner oder einen seiner Angehörigen eingelöst war, an die Familie zurückfallen, denn der Einzelne war nur Nutznießer, Besitzer aber die Familie, eine Ansicht, die bis in unsere Zeit in der Einrichtung der Fideikommisse nachwirkt.

Mit dieser Einrichtung traf der Gesetzgeber thatsächlich die Wurzel des Übels, das Gesetz hätte für die ganze soziale Entwicklung Israels von den einschneidendsten Folgen sein müssen, wenn es der vorexilischen Zeit überhaupt bekannt gewesen wäre, wie man lange angenommen hat. Aber weder die Propheten in ihrer Polemik berufen sich jemals auf ein derartiges ihnen und ihren Zeitgenossen bekanntes mosaisches Gesetz, noch finden wir in den historischen Büchern die leiseste Hindeutung auf eine derartige Einrichtung, wir haben vielmehr ein Gesetz vor uns, das der Zeit nach Jeremiah und Ezechiel zugehört.

Freilich auch in der nachexilischen Zeit fehlt es uns an jeder Nachricht, dass dies Gesetz beobachtet sei, ja die jüdische Tradition gibt ausdrücklich zu, dass man das Jubeljahr nicht gefeiert habe, was um so befremdlicher ist, je mehr der Buchstabe des Gesetzes seit der Zeit des Esra das gesamte Leben der Juden bestimmte, die Schwierigkeiten waren eben doch derart, dass selbst der beste Wille nicht im Stande war, ein solches Gesetz, welches nicht aus historischen Verhältnissen herausgewachsen, sondern aus bestimmten Praemissen künstlich gebildet war, zu realisieren. 

Jedenfalls beweist uns der Entwicklungsgang der nachexilischen Juden die Richtigkeit der eben berührten jüdischen Tradition, denn zu keiner Zeit der israelitischen Geschichte treten uns die sozialen Gegensätze in solcher Schärfe und in dieser eigentümlich ethischen Beleuchtung entgegen, wie in dieser nachexilischen. Freilich haben wir auch schon in der älteren vorexilischen Literatur Ansätze zu der Umbiegung der sozialen Gegensätze zu ethischen. Wenn ein Amos sich vorwiegend wider die mächtigen Grossen wendet, welche auf den Armen herumtreten und danach trachten, die Dulder oder, wie Luther nicht uneben übersetzt hat, „die Stillen im Lande“ zu vernichten, wenn ein Jesajah für die kommende Zeit gerade den Armen erhöhte Freude in Jahve verheißt,  wenn das Deuteronomium den Reichen vor Gottvergessenheit und Hochmuth warnt und Zephanjah ein gebeugtes und geringes Volk als das wahre Israel der Zukunft schaut, so sind schon hier die Übergänge klar genug.


X.

Die Entwicklung der nachexilischen Zeit bewegt sich in derselben Linie weiter. An der Spitze des Staates stand der Priesteradel, auf den alles, was an politischer Macht dem Volke geblieben, übergegangen war, welcher zudem im Besitz reicher Einkünfte die Sicherheit des gegenwärtigen Genusses nicht durch Auflehnung gegen seine Zwingherrn gefährden mochte, zudem auch bei der Lösung der ihm zugefallenen politischen Aufgaben sich naturgemäß von politischen Gesichtspunkten leiten Hess, welche die religiösen in den Hintergrund drängten und zwar zeitweise so sehr, dass diese Aristokratie, z. B. in der syrischen Zeit, bis zur Verleugnung jüdischen Glaubens und Cultus zu Gunsten des griechischen Geistes kam.

Ihnen standen die gesetzestreuen Juden gegenüber, in erster Linie repräsentiert durch die Schriftgelehrten, welche von dem Augenblick an notwendig waren, wo ein das gesamte Leben regelndes Gesetz als göttliche Autorität anerkannt wurde. Ursprünglich identisch mit den Priestern lösten sie sich bald von diesen ab, da ja das Gesetz ein das ganze Volk interessierendes war. Aber wenn sie auch als selbständiger Stand sehr früh zu hervorragender Bedeutung kamen und vom Volk hochgeehrt wurden, ihre soziale Lage war oft eine kümmerliche, so dass die meisten gezwungen waren, durch irgend ein Handwerk sich zu ernähren, und so auch nach dieser Seite den Gegensatz zu der reich begüterten Priester-Aristokratie bildeten.

Aus diesen Kreisen ging die Partei der Chasidim, der Frommen, hervor,’ welche mit der äußersten Strenge am mosaischen Gesetz festhielten und jede Berührung mit ihren heidnischen Machthabern und der heidnischen Umgebung flohen, sich damit aber freilich auch der Möglichkeit beraubten, ihre soziale Lage zu bessern. Je mehr nun die stets zu Konzessionen geneigte Aristokratie sich bereicherte, um so mehr wurde in den Kreisen des Volkes die Armut  geradezu zu einer theokratischen Tugend.

Zwar milderten sich in den Makkabäerzeiten etwas die Gegensätze, insofern die Sadducäer, welche sich im Wesentlichen mit jener Aristokratie deckten, den religiösen Bestand ihres Volkes unangetastet liessen und andererseits die Pharisäer, welche aus den Chasidim hervorgingen, gleichfalls einzelne Schroffheiten aufgaben, aber der eben dargelegte Gegensatz blieb zunächst derselbe, wie das namentlich die Psalmen Salomos aus der Zeit des Pompejus dartun. Die hier zu Jahve rufenden Armen ‚ oder Gerechten oder Frommen sind identisch mit den pharisäischen Kreisen;  ihnen gegenüber die Sünder, die zu Reichtum, Macht und Ehren gelangt sind, welche Werth legen auf ihren theokratischen Benit und sich als Vollstrecker des Gesetzes gebärden, aber das ist nichts als Heuchelei, welche als Priester amtieren, aber dabei das Heilige des Herrn schnöde entweiht haben.
 

XI.

Es ist bekannt, wie diese Ideenassoziation auch in die Lucas-Schriften des neuen Testaments hinüberreicht, wo das Matthäus-Wort: „Selig die Armen im Geist“ die Form erhallt: „Selig ihr Armen, selig ihr jetzt Hungernden, ihr jetzt Weinenden“, mit dem nur in diesem Evangelium zum Ausdruck gekommenen Gegensatz : „Wehe euch , ihr Reichen, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern“, und offenbar aus dieser Gedankenwelt heraus ist jenes Bild des Kommunismus der Urgemeinde entstanden, welches mit den ältesten uns erhaltenen Nachrichten über die Urgemeinde in Widerspruch steht.

Im Laufe der Zeit vollzog sich dann freilich in den pharisäischen Kreisen, hervorgerufen durch ihre Lohnsucht und die rein äußerliche und mechanische Art, wie sie die göttliche Gerechtigkeit auffassten, ein Umschwung, insofern ihnen Reichtum als ein Zeichen göttlichen Wohlgefallens, Armut als das größte Übel galt.“ Deshalb war auch schließlich ihnen Erhaltung und Mehrung des Besitzes durchaus nicht unverträglich mit der Frömmigkeit, wurde doch das, was etwa an egoistischen Motiven dabei mit unterlief, jetzt durch die Almosen, die geradezu „Gerechtigkeit“ genannt wurden, wettgemacht.  So waren alle Versuche einer Reform des sozialen Lebens des jüdischen Volkes vom Boden des Gesetzes aus gescheitert.

Doch tritt uns, ehe das Volk über die Erde zerstreut wird, noch ein eigentümlicher Versuch, der Schwierigkeiten Herr zu werden, entgegen, der um so bedeutungsvoller ist, weil er der Vorläufer ähnlicher Bewegungen auf dem Boden der christlichen Kirche war. Der Essenismus, welcher einerseits nichts als der auf die Spitze getriebene Pharisäismus war, andrerseits aber sich offenbar unter dem Einfluss griechischer und besonders pythagoräischer Philosophie gebildet hat, hat zuerst eine Realisierung des Kommunismus versucht. Die Essener bildeten enggeschlossene Gemeinschaften, gleichsam eine einzige große Familie, deren Mitglieder jedem Privatbesitz entsagten: wer in den Orden eintrat, überwies sein Privatvermögen demselben, ebenso floss der Erlös für die Arbeit in eine gemeinsame Kasse. Der Orden dagegen sorgte für den gesamten Lebensunterhalt, überhaupt für alle Bedürfnisse seiner Mitglieder bis zum Lebensende,  so dass die Essener „lebten wie Brüder, die ein gemeinsames Vermögen besitzen.

Damit waren in der Tat die sozialen Gegensätze beseitigt und das für Israel gesteckte ideale Ziel, dass kein Armer unter ihnen sein sollte, erreicht, aber doch nur so, dass man vom Boden des Volkslebens sich gelöst und enggeschlossene Gemeinschaften innerhalb der großen Volksgemeinschaft gebildet hatte, um das Ideal eines vollkommen reinen Lebens - rein im kultischen Sinn genommen – zu verwirklichen. Der Kommunismus ließ sich zudem auch hier nur durchführen, weil sie, unter strenger Disziplin lebend, zu regelmäßiger Arbeit angehalten wurden, und weil sie dem Grundsatze nach Coelibatäre waren, so fehlte für den Einzelnen einer der wirksamsten Impulse zum Erwerb von Privatbesitz. Mit einem Wort: hier war eine Reihe von Faktoren wirksam, ohne welche diese Lösung des sozialen Problems zur Unmöglichkeit wurde, wie denn auch tatsächlich die einzige Gemeinschaft, welche jetzt über hundert Jahre den Kommunismus durchgeführt hat, die Shakers, Coelibatäre sind und sich durch Proselyten ergänzen.

Es ist heute wohl allgemein anerkannt, dass religiöse Erkenntnisse nicht in mechanischer Weise den Menschen übermittelt werden, sondern dass sie organisch herauswachsen aus den Lebensverhältnissen und Faktoren, unter deren Einfluss Gott die Menschen gestellt hat. Darum ergibt sich naturgemäß die Frage, welche Bedeutung diese eben skizzierten Erfahrungen für die religiöse Erkenntnis Israels gehabt haben.

Einer der Grundpfeiler israelitischer Frömmigkeit war der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes, welche bei dem durchaus diesseitigen Charakter der israelitischen Religion als eine hier auf Erden sich realisierende gedacht wurde: „auf dass es dir wohl gehe und du lange lebest in dem Lande, welches dir Jahve, dein Gott, geben wird“, dies Wort aus dem Dekalog charakterisiert deutlich nach der einen Seite diesen Glauben. So gewiss keine gesunde Religion diesen Glauben an Gottes Gerechtigkeit entbehren kann, und so gewiss auch im Grossen und Ganzen es sich bewahrheiten wird, dass „die Sünde der Leute Verderben“ ist, „die Gottseligkeit aber zu allen Dingen nütze“, so gewiss bietet das Leben doch Fälle genug, welche solchem Glauben widersprechen, und welche daher den frommen Israeliten in die schwersten innern Kämpfe hineinstürzen mussten, aus denen jene Theodicepsalmen 37, 49 und 73, vor allen Dingen aber als das reifste Produkt dieser Theodiceliteratur, das Buch Hiob hervorgingen.

Gelang es dem sinnenden Geiste auch nicht, selbst in diesem reifsten Produkt, zu einer befriedigenden Lösung zu kommen, — weist doch der Verfasser des Hiob schließlich auf die göttliche Weisheit hin, welche dem Menschen verschlossen ist, für den nur eins bleibt : demütige Unterordnung unter Gottes Walten, und sucht der Dichter doch durch Wiederherstellung des Reichtums und entschwundenen Glückes des Hiob der poetischen Gerechtigkeit zu genügen — dennoch haben diese Zeiten der sozialen und damit auch der religiösen Konflikte eine herrliche Frucht gezeitigt, nämlich die Erkenntnis von dem Wesen und dem Werth der Frömmigkeit: sah man einst in ihr die unerlässliche Vorbedingung für irdisches Glück, so wusste man jetzt, dass dieselbe, auch losgelöst von dem äußeren Segen, in sich selbst von unvergleichlichem Werte, dass sie ein alle andern Güter dieser Welt überragendes und überdauerndes Gut ist, eine Erkenntnis, die ihren klassischen Ausdruck in dem Psalmistenwort gefunden hat, das Luther trefflich dem Sinne nach so wiedergegeben : „Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist du doch, Gott, alle Zeit meines Herzens Trost und mein Teil“.

Ein anderes nicht minder bedeutsames Ergebnis der vorher dargelegten Entwicklung ist der schwer zu verkennende Schritt der israelitischen Religion zur Individualisierung.  Jahve ist Israels Gott, das ist das Grundbekenntnis, Israel ist der Gegenstand seiner Fürsorge, Israel sein Sohn, den er aus Ägypten gerufen, Israel will er tragen, bis ins Alter, immer handelt es sich um das Volk, nicht um das einzelne Individuum. Hier musste ein Wandel eintreten, als sich innerhalb des Volkes selbst jene Scheidung in Abtrünnige, die um äußerer Vorteile willen den Glauben ihrer Väter preisgaben, und in Gottesfürchtige, welche freudig Gut und Blut für die Heiligtümer ihres Volkes opferten, vollzog, wie sie schon in der Prophetie des großen Unbekannten des babylonischen Exils erkennbar ist: nicht das ganze Volk, sondern die Armen und Elenden sind das wahre Israel, welches in der Vollendungszeit zur Herrlichkeit gelangt. Damit tut die alttestamentliche Religion einen Schritt vorwärts auf dem Wege, dessen Ende der Gottesbegriff Christi bezeichnet.

Stärker als das Alte Testament hat man in neuerer Zeit das Neue herangezogen und behauptet, dass dasselbe nicht nur allgemeine Grundsätze aufstellt, sondern dass aus demselben sich auch wirklich positive konkrete Urteile und Vorschriften für die Lösung der sozialen Frage ableiten lassen. Es ist heute nicht meine Aufgabe nachzuweisen, wie diese Position nach allen Seiten unhaltbar ist, es bedarf ja auch nur eines eindringenden Nachdenkens über das Wesen des Reiches Gottes, des eigentlichen Kernes der Predigt Christi, um auch als Laie die Unrichtigkeit solcher Behauptung zu erkennen : was eben auf dem Boden des Alten Testamentes, wo Jahrhunderte lang Religion und Staat zwei unzertrennbare Größen waren, möglich, ja notwendig war, ist hier im neuen Bunde von selbst ausgeschlossen.

Aber wenn auch von konkreten positiven Vorschlägen keine Rede sein kann, wer wollte leugnen, dass das Evangelium vom Reiche Gottes sozialen Gehalt im eminentesten Sinne hat, dass dasselbe wie nichts anderes fähig ist, den Boden zuzubereiten, auf dem eine Gesundung unseres Volkslebens sich vollziehen kann? Die Erkenntnis, dass mit wirtschaftlichen Maßnahmen allein nicht geholfen ist, sondern dass die Kraft und Tüchtigkeit eines Volkes sehr wesentlich durch die Gesundheit seiner Frömmigkeit bedingt ist, ist heute in weiten Kreisen unseres gebildeten Volkes anerkannt und man stimmt mit ein in die Forderung, dass die Religion unserm Volk erhalten bleibe.
 

XII.

Eine Frucht solcher Erkenntnis ist nur bei der unbedingtesten Wahrhaftigkeit zu erwarten, nur wenn die große Masse des Volkes es empfindet, dass nicht Gründe der Staatsklugheit, sondern die persönliche Erfahrung der Religion als des höchsten Gutes solche Anschauung gezeitigt, wenn auch die gebildeten Kreise unseres Volkes eine positive Stellung zur Religion gewonnen haben.

Unsere, der theologischen Fakultäten, Aufgabe an den deutschen Hochschulen ist es, den gebildeten Kreisen unseres Volkes zu der Überzeugung zu verhelfen, dass christliche Frömmigkeit und wahre Wissenschaft zwei nicht sich ausschließende Größen sind, eine Geistlichkeit heranzubilden, welche befähigt ist, das gesamte Leben unseres Volkes mit christlichem Geiste zu durchdringen, eingedenk des paulinischen Wortes : „Alles ist Euer Ihr aber seid Christi“. Indem wir so unsern Beruf ansehen, glauben wir an der Erfüllung der Aufgabe unserer Hochschule mitzuarbeiten, welche der glorreiche und unvergessliche Stifter unserer Universität vor zwanzig Jahren so gezeichnet hat:

„Wir begründen“, so heißt es in der Stiftungsurkunde, „diese Hochschule, die aus dem Elsass und aus Lothringen so viele hochgelehrte Männer empfing und diesen Ländern wie der Welt Männer, tüchtig in allen Zweigen der Wissenschaft zurückgegeben hat, von Neuem, auf dass an ihr im Dienst der Wahrheit die Wissenschaft gepflegt, die Jugend gelehrt und so der Boden bereitet werde, auf welchem mit geistiger Erkenntnis  wahrhafte Gottesfurcht und Hingebung für das Gemeinwesen gedeihen“ ! [Quelle: Rektoratsrede 1892,  im Bezug auf die Lesefähigkeit des Textes in der Rechtschreibung leicht überarbeitet]